Ein Traum

(Christian Holzapfel)

 

   Ich lag auf der Liege in einem hellen Zimmer, wie ein Zimmer im Krankenhaus, und hörte, wie jemand draußen mit schwacher Stimme rief:


   "Gerda, Gerda, Gerda, ...", immer wieder.


    Gerda kam rein mit Inge zusammen, und auf meine Frage, wer da riefe, antwortete sie:
"Das ist nur unsere Mutter, die ruft immer nach mir."
"Das kann doch nicht sein", meinte ich, "eure Mutter ist doch schon vor zwei Jahren gestorben."
"Nein, wie kommst du darauf, unsere Mutter lebt und ruft nach mir, immer wieder."
"Aber sie ist doch schon 1992 gestorben."
"Wie kommst du auf 1992? Wir haben jetzt 1759", sagte Gerda.


    Neben mir stand ein kleines Telefon, kleiner als normal. Es sah sehr modern aus, kam mir schwarz vor. Ich wartete, bis ich allein war und wählte dann 72, um die Zeitansage oder den Wetterbericht zu hören, oder um irgend etwas zu hören, woraus die aktuelle Jahreszahl hervorgehen könnte. Aber was ich hörte, war nicht eindeutig.


    Als Inge wieder hereinkam, fragte ich sie welches Jahr wir hätten. Sie sagte mir 1795 (Gerda hatte deutlich 1759 gesagt).


    Ich sagte ihr, das könnte nicht sein, dann wäre ja jetzt erst Napoleon an der Macht, was aber Inge bestätigte; er wäre gerade an der Macht.


    "Wenn das wirklich so ist, dann hol schnell Papier und Bleistift und schreibe auf, was ich dir sage, das vielleicht wichtigste Papier der Geschichte."


    Ich diktierte ihr alle mir einfallende Jahreszahlen:
1805 würde Napoleon bei Waterloo geschlagen werden,
1815 würde im Wiener Kongreß Europa neu geordnet werden,
1848 würde Dänemark in Schleswig-Holstein einmarschieren und
1864 würde der deutsche Kanzler Bismarck zusammen mit Österreich Dänemark bei den Dybböler Schanzen schlagen und Schleswig-Holstein zurückerobern.
1912 würde der erste Weltkrieg ausbrechen - hier fing ich langsam an aufzuwachen,
1915 oder -16 würde die russische Revolution ausbrechen – nun war ich schon wach geworden und lag im Wohnwagen am Bastrup See.


    Es war ein Traum.


    Aber mir kam der Gedanke, daß vielleicht der Traum die Erinnerung an ein früheres Leben gewesen war und daß - vielleicht das merkwürdigste dabei - das Papier, das ich Inge diktiert hatte, vielleicht noch in irgendeiner Schublade irgendwo wirklich existiert. Es liegt irgendwo schon vergilbt, aber eine Weissagung der Geschichte, wie sie es noch nie vorher gegeben hatte.


    Man sollte vielleicht versuchen, es zu finden.


(Juli 1994)